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Schmerz - боль

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Schmerz - боль

Am Abend des 1. Juli 2002 stoßen im Himmel über Owingen bei Überlingen am Bodensee zwei Flugzeuge zusammen: DHL-Flug 611 und Bashkirian Airlines-Flug 2937. Alle 71 Insassen sterben, unter ihnen befinden sich 52 Kinder. Witali Kalojew, ein russischer Angehöriger, tötet zwei Jahre später den damals diensthabenden Fluglotsen Peter Nielsen. Das Unglück von Überlingen hat die Leben vieler für immer verändert. In dieser Reportage erinnern sich Beteiligte an die Katastrophe.

Von Yannick Dillinger, Christian Schellenberger, Martin Hennings, Simon Haas, Michael Scheyer, Alexei Makartsev und David Weinert (Animation)
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Die Katastrophe

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Auf russischer Seite ist es schwierig, Menschen zu finden, die sich öffentlich an die für sie traumatisierenden Ereignisse zurückerinnern möchten. Für uns hat es Sulfat Chammatov gemacht - im Video-Interview (nächste Seite) mit Schwäbische-Redakteur Alexei Makartsev. 

Chammatov hat jahrelang mit anderen Angehörigen darum gekämpft, dass die Instrumente zur Flugsicherheit überarbeitet werden. In einem kurzen Überblick sehen Sie, was sich seitdem tatsächlich verändert hat. 

Im folgenden Kapitel hören und lesen Sie die Erinnerungen von Alexei Makartsev. Er hat 2002 als Korrespondent für die Schwäbische aus Russland berichtet. In den Tagen nach dem Unglück hat es im Land neben der großen Trauer auch viel Unmut und Enttäuschung gegeben.
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Der Schmerz bleibt

Sulfat Chammatov

Sein Sohn Arthur war eines der Kinder, die am 1. Juli 2002 vom Himmel fielen. Der Schmerz sitzt bis heute tief.

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Nach der Katastrophe von Überlingen wurde das Kollisionswarnsystem TCAS überarbeitet. Foto: BFU
Nach der Katastrophe von Überlingen wurde das Kollisionswarnsystem TCAS überarbeitet. Foto: BFU
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Zusammen mit den Familien der anderen Opfer hat Sulfat Chammatov jahrelang dafür gekämpft, dass Fliegen heute ein Stück sicherer ist. Denn neben dem Versagen des Fluglotsen hatte eine unzureichende technische Einstellung zur Kollision über dem Bodensee geführt. Das Traffic Alert and Collision Avoidance System (TCAS) hatte erst spät Alarm ausgelöst - zu spät.

„Hätte es fehlerfrei funktioniert und hätte der Fluglotse nicht interveniert, wären die Flugzeuge aneinander vorbeigeflogen“, ist sich Chammatov sicher.

Nach der Tragödie von Überlingen und zwei weiteren Zwischenfällen, die weniger dramatisch ausgingen, wurden Flugzeughersteller und Fluggesellschaften angewiesen, Änderungen an dem Kollisionswarnsystem vorzunehmen.

„Uns ging es um Gerechtigkeit“, sagt Chammatov mit Blick auf ein Gerichtsurteil, das er und andere Angehörige in Spanien erstritten haben.„Wir wollten erreichen, dass niemand mehr solche Fehler macht. Und das haben wir geschafft.“
Nach der Katastrophe von Überlingen wurde das Kollisionswarnsystem TCAS überarbeitet. Foto: BFU
Nach der Katastrophe von Überlingen wurde das Kollisionswarnsystem TCAS überarbeitet. Foto: BFU
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Sulfat Chammatov

In der Arthur-Ecke zuhause in Russland und in Bauer Kitts Obstgarten in Überlingen, dort wo baschkirische Tannen stehen, ist er seinem verstorbenen Sohn nahe.

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Russland zwischen Trauer und Enttäuschung

Alexei Makartsev

Alexei Makartsev hat 2002 als Korrespondent aus Russland berichtet. Er erzählt davon, wie die Katastrophe von Überlingen in Russland wahrgenommen wurde.

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Ihre Kinderliebe wurde der 29-jährigen Katja Basyrowa zum Verhängnis. Am Montagabend stieg die Pädagogin und „führende Pionierleiterin" der Republik Baschkirien in die Tupolew der Baschkirischen Fluglinie (BAL), um 52 Schulkinder in die Ferien zu begleiten. Ihre letzte Reise dauerte nur 175 Minuten.

Zusammen mit Katja starb im Himmel über dem Bodensee die Pädagogikdozentin Lena Pospelowa (29). Auf Bitte ihrer Freundin hatte sie sich der Gruppe angeschlossen, um bei der Betreuung der Kleinen zu helfen. „Sie waren so fröhlich und energisch. Es ist unbegreiflich", sagen die Mitarbeiter der Pägagogik-Uni in Ufa.

Nach dem ersten Schock empfinden die Menschen in der baschkirischen Hauptstadt tiefen Schmerz über den Verlust ihrer Verwandten, Freunde und Kollegen. Sechs Ärztebrigaden betreuen rund um die Uhr die Trauernden. Wer Kraft hat, schleppt sich hin zur Trauermesse in der Moschee. 148 Menschen wollen heute mit einer TU154 zum Katastrophenort fliegen. Die Bundesrepublik lässt die Angehörigen notfalls auch ohne die Visa einreisen.

„Mein Kind konnte es kaum erwarten, Spanien zu sehen. Es war seine erste Auslandsreise. Und die letzte", sagt schluchzend die Mutter des 13-jährigen lldar, der beim Absturz gestorben war. „Der tote Sascha Gross hat zwei Töchter hinterlassen", erzählt eine BAL-Mitarbeiterin. Durch Zufall war eine Tochter des Tupolew-Kapitäns, eine Stewardess der BAL, nicht mit der Katastrophenmaschine geflogen.

Es gab auch andere glückliche Schicksalsfügungen. Din Chuschin, ein Begleiter der baschkirischen Reisegruppe, hatte überraschend kein Visum für Spanien bekommen und musste in Moskau bleiben. Am nächsten Morgen rief er im Reisebüro „Soglassije" an. „Als ich die Nachricht hörte, fühlte ich keine Freude, dass ich dem Tod entronnen bin. Ich setzte mich hin und versuchte lange, den Kloß im Hals zu schlucken", erzählte Chuschin der Zeitung „Kommersant".

Nach dem fatalen Fehler einer Mitarbeiterin von „Soglassije", die am Samstag die Gruppe zunächst zum falschen Flughafen gebracht hatte, musste das Reisebüro die Schüler in eine Chartermaschine umbuchen. Die Frau starb später an Bord der Tupolew.

„Ich bin schuld", quält sich nun die Direktorin des Reiseunternehmens, Tatjana Ostapenko. Im Namen der betroffenen Eltern machte gestern ein hochrangiger Beamter in Ufa das baschkirische Partnerbüro von „Soglassije" für die Tragödie verantwortlich. „Hätten sie die Dokumente korrekt ausgestellt, wären die Kinder mit dem ersten Flugzeug geflogen", sagt Sulfat Chammatov, der einen elfjährigen Sohn verloren hat.

Chammatov hält die Piloten und die Fluglotsen für unschuldig. Doch viele Experten in Russland sind anderer Meinung. Sie halten es für möglich, dass der Kapitän der Tupolew etwa wegen Funkstörungen die erste Warnung der Schweizer Flugsicherung nicht gehört hat. Doch für die meisten Fachleute besteht kein Zweifel daran, dass Zürich den Löwenanteil der Schuld an der Katastrophe tragen muss.

Sie finden es unverantwortlich, dass das automatische Warnsystem der Skyguide auf den Stand-by-Modus heruntergeschaltet gewesen war. Und dass der Lotse die Tupolew erst 50 Sekunden vor dem Unglück angefunkt hat. „Das war kein Routinefall, sondern eine kritische Situation. Der Lotse hätte viel früher handeln müssen', kritisiert der stellvertretende Direktor der nordkaukasischen Flugsicherung, Wladimir Schukow.

„Laut den geltenden Regeln hätte bei einer Kollisionsgefahr der Frachtflieger seinen Kurs zuerst ändern müssen", sagte der Vize-Direktor der Baschkirischen Fluglinien, Vener Schakirow. Sein Chef Nikolaj Odegow will Skyguide verklagen.

„Ihre Reise wird unter den bestmöglichen Bedingungen stattfinden", versichert BAL im Internet ihren Kunden. Die nationale baschkirische Fluggesellschaft mit 2000 Mitarbeitern hatte sich Anfang der 90er-Jahre wie die meisten Linien in Russland vom Monopolisten Aeroflot abgespalten. In der Folgezeit verlor BAL nach eigener Darstellung ihre „traditionellen Routen", zuletzt sei die Zahl der beförderten Passagiere noch einmal stark gesunken.

Der Verlust der sieben Jahre alten Tupolew - der modernsten der acht Tu-154- Maschinen im Besitz der BAL - könnte das Unternehmen in ernste finanzielle Probleme stürzen. Anders als die Passagiere war das verunglückte Flugzeug (Basispreis 1997: 15 Millionen Dollar) nämlich nicht versichert.
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Auch im Bodenseekreis hat die Flugzeugkatastrophe von Überlingen das Leben zahlreicher Menschen bis heute beeinflusst. 

Im nächsten Kapitel erinnert sich Bernhard Kitt, in dessen Obstwiesen die toten Kinder fielen, an die Stunden, Tage und Wochen nach dem Zusammenstoß.

Im darauffolgenden Kapitel berichtet Hans-Peter Walser, wie er als damaliger Einsatzleiter die Ermittlungen gestartet und versucht hat, im Chaos einen kühlen Kopf zu bewahren.

Anschließend erinnert sich Martin Hennings, wie er vor 15 Jahren für die Schwäbische Zeitung quasi Tag und Nacht aus Überlingen berichtet hat.
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Als die Toten in den Garten fielen

Bernhard Kitt

Über seinem Grundstück stürzten die meisten toten Kinder zur Erde. Noch in der Nacht war Kitt als Feuerwehrmann im Einsatz – unter anderem auf seiner Obstplantage.

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Bernhard Kitt

Für seine zerstörte Plantage erhielt er nach langem Hin und Her einen Ausgleich. Der finanzielle Schaden war in den ersten Tagen aber das geringste Problem.

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Kühler Kopf in chaotischen Stunden

Hans-Peter Walser

Als Leiter der Polizeidirektion Friedrichshafen koordinierte er den Polizeieinsatz an der Unglücksstelle.

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Worte finden für das kaum Erklärbare

Martin Hennings

Als Berichterstatter für die Schwäbische Zeitung hat er vor 15 Jahren versucht, das Unfassbare in Worte zu fassen.

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Es ist Tag drei nach der Katastrophe von Überlingen, als das Unglück für mich ein Gesicht bekommt. Stundenlang stehen wir in Brachenreuthe, einer der Absturzstellen, und warten auf die Angehörigen der 71 Opfer. Dutzende Journalisten sind da, seit Tagen im Einsatz, man kennt sich, man witzelt, die Sonne lacht über dem strahlend blauen See.

Dann kommt der Bus.

Ich reiße die Kamera hoch, drücke auf den Auslöser – und blicke durch den Sucher in die leeren Augen einer baschkirischen Mutter, die ihr Kind verloren hat, elftausend Meter über dem Erdboden und Tausende Kilometer weg von zuhause. Und ich stehe da und knipse einen Reisebus. Plötzlich ist das Unglück viel mehr als Teil meines Jobs. Stünde ich nicht im Journalistenpulk, ich würde losheulen. Vielen Kollegen geht es offenbar ähnlich. Denn als der Bus auftaucht und die Angehörigen aussteigen, verstummen alle, auch die hartgesottensten Reporter. Nur die Kameras klicken.

Bis zu diesem Moment ist alles automatisch gelaufen. Ich bin auf Reportermodus programmiert. Kurz nach Mitternacht der Anruf: Flugzeugabsturz bei Überlingen. Raus aus dem Bett, rein ins Auto. Einfach mal hinfahren. Kommunalpolitik, Feste, Autounfälle – das ist der Alltag eines Lokalredakteurs. Aber ein Flugzeugabsturz? Vor Ort erste Infos der Polizei und eine stockdunkle Nacht, die immer wieder durch Blaulicht erhellt wird. An einem Kreisverkehr in Andelshofen stehen Rettungskräfte, deren Blick verrät, dass es nichts mehr zu retten gibt. Zwei Jugendliche erzählen von Leichen, die mitten auf der Straße liegen. Schnell wird klar, dass es mehr als eine Absturzstelle gibt.

Die Polizei riegelt weiträumig ab, ein Gebiet von zig Quadratkilometern komplett im Blick behalten kann sie aber nicht. Wir ziehen los, neugierig, irgendwie aufgeregt. Keiner weiß, was wir hinter der nächsten Ecke finden und was wir dann tun, wenn wir was finden. Gott sei Dank bleibt unsere Spurensuche in dieser Nacht erfolglos.

Um 23.35 Uhr sind die Flugzeuge zusammengestoßen. Noch bevor der nächste Morgen graut, ist die Weltpresse vor Ort. Mehr als 100 Journalisten verfolgen die Pressekonferenz um halb fünf im Überlinger Kursaal, manches Gesicht kennt man aus dem Fernsehen. Die Katastrophenreporter hatten sich zuletzt in Erfurt getroffen. Amoklauf. Geschickt lenkt die Polizei die Presse, bei Sonnenaufgang bringen Busse Reporter, Fotografen und TV-Teams nach Brachenreuthe. Dort liegt ein Stück Flugzeug in einem Feld. Es entstehen die Bilder, die um die Welt gehen. Dass nur ein paar hundert Meter weiter der größte Teil der Tupolew in einem Obstgarten liegt und mit ihm viele tote Kinder, wissen wir nicht.

Die Jagd nach dem brutalsten Bild bleibt heute aus. Hochkonjunktur haben dagegen Gerüchte: Die Piloten waren betrunken. Oder: Ein Vater findet sein eigenes Kind tot in einem Apfelbaum. Alles falsch, ebenso die meisten Geschichten, die sich darum ranken, wo und wie die Körper der 52 Kinder und 26 Erwachsenen, die bei dem Unglück sterben, zur Erde gefallen sind.

Die meisten, die darüber wirklich berichten können, gehen mit dem Geschehen so um, wie die Menschen am See insgesamt: zurückhaltend, würdevoll. Und ziemlich bald erkennen die Menschen in und um Überlingen, dass sie selbst wahnsinniges Glück gehabt haben. Denn am Boden kommt niemand zu Schaden.

Fast eine Woche lang beherrscht Überlingen die Schlagzeilen, genau so lange versucht die kleine SZ-Lokalredaktion in Markdorf, Schritt zu halten mit öffentlich-rechtlichen Fernsehriesen, großen Magazinen, der Bild-Zeitung. Aber: Viele Türen öffnen sich, wenn man dich kennt. Nicht jede Absperrung der Polizei funktioniert, wenn du ortskundig bist. Soll man wirklich ein paar leere Obstkisten ins Auto schmeißen, um sich als Bauer ausgeben zu können? Es ist ein Spagat zwischen journalistischem Ehrgeiz und dem Wissen, dass man den Menschen, mit denen man jetzt zu tun hat, noch öfter begegnen wird.

Am Ende läuft es so, dass sich alle noch im Spiegel angucken können. Richtig ist aber auch, was einer meiner Chefs damals zu mir sagt: „Das klingt jetzt zynisch, aber diese Geschichte ist sicher einer der Höhepunkte Ihres Journalistenlebens."

Der Flugzeugzusammenstoß lässt viele, die damit zu tun hatten, lange nicht los. Reden, das hilft am Anfang. Es gründet sich die „Brücke nach Ufa“, ein Verein, der den Kontakt nach Baschkirien und besonders zu den Hinterbliebenen pflegt. Für Polizei und Rettungskräfte wird der Fall zum Exempel, an dem der richtige Umgang mit vergleichbaren Unglücken durchgespielt wird.

Und der Reporter? Der Mord an dem Fluglosten, der in der Unglücksnacht Dienst hatte, der juristische Streit um Entschädigungen, Jahrestage – das Thema „Flugzeugabsturz in Überlingen“ ist mir geblieben. Jedes Jahr treffen sich Zeitzeugen und Angehörige am 1. Juli am Unglücksort. Ich war schon lange nicht mehr dort. Und doch gibt es zwei Momente, die mir klar machen, dass das Unglück auch zehn Jahre danach mehr ist als ein Teil meines Jobs: Wenn sich am Himmel die Kondensstreifen zweier Flugzeuge kreuzen. Und wenn ich die Geschichte von der Ankunft der Angehörigen in Brachenreuthe erzähle. Denn dann schnürt es mir noch heute jedes Mal die Kehle zu.
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Seit dem Flugzeugunglück von Überlingen ist der Kontakt zwischen Menschen aus Baschkirien und dem Bodenseekreis nie abgerissen. Was der Freundeskreis „Brücke nach Ufa“ so alles realisiert, erzählt der Vorsitzende Jürgen Rädler im folgenden Kapitel.

Im übernächsten Kapitel lesen Sie die Geschichte des Russen Dima, der bei dem Unglück von Überlingen seine Mutter verloren hat, von einer Familie aus Owingen adoptiert wurde und in Deutschland ein neues Leben gestartet hat. 

Anschließend lesen Sie ein Kurz-Porträt über Witali Kalojew. Er hat bei dem Flugzeugunglück von Überlingen seine Frau und die beiden Kinder verloren. Zwei Jahre später tötete er den damals diensthabenden Fluglotsen Peter Nielsen. Nach seiner Haftzeit wurde er in seiner Heimat stellvertretender Minister. Ob er seinen Mord bereut? 

Schließlich erklärt Schwäbische-Redakteur Alexei Makartsev in seinem Artikel, wie die Russen heute, 15 Jahre nach dem Flugzeugunglück von Überlingen, mit der Trauer und der Erinnerung umgehen.
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In der Trauer vereint

Jürgen Rädler

Er ist Vorsitzender des Freundeskreises „Brücke nach Ufa“, der Betroffene in Russland und Deutschland verbindet.

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Dima Bagin im Cockpit. Foto: privat
Dima Bagin im Cockpit. Foto: privat
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Wenn Dima Bagin einen Wunsch frei hätte, dann diesen: „Dass alles klappt, wie ich es mir vorstelle. Vor allem das Fliegen.“ Für den 21-Jährigen, der beim Flugzeugabsturz von Überlingen seine Mutter verlor, hat die Luftfahrt nichts an Faszination eingebüßt. „Seit ich denken kann, wollte ich Pilot werden“, sagt er. Der Flughafen von Ufa war ihm eine zweite Heimat. Alle Türen standen ihm offen, wenn seine Mutter – eine Stewardess – ihn dorthin mitgenommen hat. Durch ihren Tod – sie war alleinerziehend – ist er Waise geworden.

Die Familie des Kriminalbeamten Reinhard Martin, der als einer der ersten in jener Nacht am Unglücksort des Absturzes war, hat ihn als Pflegesohn aufgenommen. Seit neun Jahren lebt er bei ihr im Hinterland des Bodensees. Gerade steckt Dima mitten in den Prüfungen zum Abschluss seiner Flugzeugmechanikerlehre in München.

In seiner Freizeit macht er den Pilotenschein. Die Lizenz 1 hat er bereits in der Tasche. Damit darf er einmotorige Maschinen fliegen, zum Beispiel eine viersitzige Cessna. Wenn er weiter büffelt und Flugstunden nimmt, dann kann er in einem Jahr die Prüfung zum Fahrverkehrspiloten machen. „Damit kann ich alles fliegen“, sagt er. Bei jeder Airline auf der ganzen Welt. „Vorausgesetzt, ich werde genommen.“ Sein Kindheitstraum ist in greifbare Nähe gerückt. Bis dahin will er als Mechaniker arbeiten. „Ich habe einige Sachen in Aussicht.“

Zurückhaltend und höflich wirkt der junge Mann. Sehr beherrscht. Doch bei diesem Thema wird er lebhaft. Was fasziniert ihn am Fliegen? Dima: „Die technischen Vorgänge, aber auch die Schönheit der Sonnenauf- und untergänge in dieser Höhe.“ Seine Ausbildung zum Piloten finanziert er selbst. Er verwendet die Entschädigung dafür, die Skyguide nach dem Tod seiner Mutter an ihn ausbezahlt hat. „Die Menschen, die selbst fliegen und in diesem Bereich arbeiten, verstehen das“, ist Dima überzeugt.

„Nach all dem Unglück ist für mich das Beste eingetreten, was in dieser Situation geschehen konnte“, sagt er heute. Momentan ist er auf Heimatbesuch in Hohenbodman bei seinen Pflegeeltern. „Er kommt öfter nach Hause als unsere leiblichen Söhne“, sagt Pflegemutter Dorothea Martin.

Dankbar ist Dima, dass die Martins ihn damals aufgenommen haben. Und auch dafür, dass sie es geschafft haben, zu ihm durchzudringen. „Ich wollte nicht nach Deutschland“, erinnert er sich. Er kannte das Land nicht, die Kultur, beherrschte die Sprache nicht. „Ich war bockig und stur, wollte in Ruhe gelassen werden.“

„Es ist schon irre, was der Junge damals alles bewältigen musste“, sagt Pflegevater Reinhard Martin. Wenn es arg schwierig wurde und sich Dima zu sehr verkrochen hat, dann haben ihn seine Brüder David und Aljoscha aus seinem Kokon geholt. „Gebalgt haben sie sich wie junge Hunde“, erinnert sich Dorothea Martin. Nach und nach habe er wieder zum Lachen zurückgefunden.

Deutschland ist Dima heute ebenso Heimat wie Baschkirien. Die Verbindungen nach Ufa pflegt er weiter. Er hat auch Kontakt zu anderen Angehörigen der Absturzopfer. „Die meisten haben wieder Familien gegründet“, sagt er. Wie hat ihn der frühe Verlust von Mutter und Großmutter verändert? „Man entwickelt sich weiter“, sagt Dima. „Man wird schneller erwachsen.“

Er macht keinen Hehl daraus dass ihn das Medieninteresse an seiner Person nicht sehr begeistert – in ganz freundlichem Ton. Aber am liebsten möchte er halt in Ruhe gelassen werden. Das hat er auch an seiner Jugendzeit in Hohenbodman geschätzt: „Einige wenige Mitschüler kannten meine Geschichte. Die meisten nicht.“

Die Leidenschaft für die Technik ist mit den Jahren gewachsen. Dima fährt Motorrad und bastelt an seinem Volvo rum. Ein weiteres Hobby ist E-Gitarrenspielen.

Das Kind, das damals mit seiner Festplatte unter dem Arm nach Deutschland gekommen ist, ist Fan von Computerspielen. Am Flugsimulator am Internet hat er viele, viele Stunden verbracht. Man kann dabei abstürzen. Ist ihm auch schon passiert. 
Dima Bagin im Cockpit. Foto: privat
Dima Bagin im Cockpit. Foto: privat
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Russische Vergangenheitsbewältigung

Witali Kalojew kann den neuen US-Film „Aftermath“ nicht leiden. Auch die Tatsache, dass er selbst darin von Arnold Schwarzenegger dargestellt wird, kann den 61-jährigen pensionierten Architekten aus Nordossetien nicht besänftigen, der bei der Flugzeugkatastrophe am Bodensee seine Frau, seinen Sohn und seine Tochter verloren und knapp zwei Jahre später dafür den dänischen Fluglotsen in Zürich getötet hat.

Die Filmfigur von Schwarzenegger bettele um Mitgefühl. „Das gab es bei mir nicht. Ich will von niemandem bemitleidet werden“, erklärte der Mann mit dem grauen Vollbart im April den russischen Journalisten. „Außerdem stellen sie im Film den Fluglotsen als ein Opfer dar.“ Kalojew akzeptiert das nicht. Für ihn bleibt der Mann, dem er an der Türschwelle dessen Hauses zwölf tödliche Messerstiche zugefügt hatte, ein Schuldiger, der den Tod verdient habe. „Mein Gewissen ist rein“, sagte Kalojew 2012 in einem Interview. 

Nach der vorzeitigen Freilassung aus der Schweizer Haft 2008 war Kalojew in Russland als ein Held gefeiert worden. Er wurde in seiner Heimat Nordossetien zum stellvertretenden Bauminister und heiratete erneut. Im Januar 2016 wurde Kalojew in Ehren in den Ruhestand verabschiedet. Die Regierung der Kaukausrepublik verlieh ihm unter anderem für seine großen „Verdienste bei der Stärkung der Gesetzlichkeit und Rechtsordnung“ die Medaille „Zum Ruhm Ossetiens“.
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In Russland sind die Erinnerungen an das Flugzeugunglück von Überlingen heute noch sehr präsent. Die Russen trauern auch 15 Jahre später noch um die Verstorbenen - wie um den kleinen Arthur. Foto: privat
In Russland sind die Erinnerungen an das Flugzeugunglück von Überlingen heute noch sehr präsent. Die Russen trauern auch 15 Jahre später noch um die Verstorbenen - wie um den kleinen Arthur. Foto: privat
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Ihnen fehlten angeblich nur 1,5 Sekunden. Ein flüchtiger Augenblick, so kurz wie ein Herzschlag, hätte wohl ausgereicht, um der Kollision über dem Bodensee zu entgehen und so eine der größten Katastrophen der russischen Luftfahrt zu verhindern. Die 69 Passagiere und Besatzungsmitglieder des Flugs 2937 der Bashkirian Airlines hatten diese 1,5 Sekunden nicht, als sich die Wege ihrer Tupolew 154M und einer von zwei Piloten gesteuerten Boeing 757 der DHL kreuzten. Seit 15 Jahren leben die Hinterbliebenen mit den Folgen der Tragödie, die ihnen ihre Kinder und Ehepartner geraubt hat. Die Zeit hat die Wunden in ihren Seelen nicht geheilt. Der Schmerz ist nur etwas leiser geworden.

„Für meine Familie ist es so, als wäre das erst gestern geschehen. Manchmal habe ich das Gefühl, dass Arthur nur irgendwohin weggefahren ist“, sagt Sulfat Chammatov aus Ufa, der bei dem Unglück seinen elfjährigen Sohn verloren hat. Der Ökonom aus der russischen Teilrepublik Baschkirien erinnert sich an die schwarzen Tage, nachdem er die verheerende Nachricht erfahren hatte: „Es war sehr schwer, nach der Katastrophe das Bett zu sehen, in dem Arthur geschlafen hatte. Da lagen noch all seine Sachen, die für uns sehr wertvoll waren“.

Der verzweifelte Sulfat und seine Frau Ida klammerten sich damals an das Angebot der Behörden, eine andere Wohnung in der Millionenstadt Ufa zu beziehen, um „mit neuer Hoffnung weiterzuleben“. Diese Hoffnung sind ihre Kinder Timur (13) und Iskandar (9). Der trauernde Vater, einst ein bekennender Atheist, hat Trost in der Religion gefunden. „Gott hat uns einen Sohn weggenommen, aber er gab uns zwei andere Söhne“, sagt Chammatov heute. „Ich möchte sie zu Menschen erziehen, die ihres gestorbenen Bruders würdig sind.“

Mindestens 14 Familien der Hinterbliebenen sollen nach der Katastrophe neue Kinder bekommen haben – eigene oder adoptierte. Auch Wladimir Sawtschuk aus Ufa wählte diesen Weg des Neubeginns. „Ich hatte zunächst das Gefühl, dass in meinem Leben alles zu Ende war“, erzählte der 56-Jährige kürzlich in einer russischen Talkshow. Seine Ehefrau Irina, Tochter Weronika und Sohn Wladislaw waren in der Unglücksmaschine gestorben. „Aber dann hatte ich beschlossen, meine Kinder zurückzuholen.“ Als sein zweiter Sohn und seine zweite Tochter zur Welt kamen, bat Sawtschuk einen orthodoxen Priester um Rat, ob er sie Veronika und Wladislaw nennen dürfte. Dessen Antwort war: „Ja, so gehen diese Namen nicht verloren.“

Die Überreste seiner anderen Kinder und seiner ersten Frau ruhen auf dem Südfriedhof von Ufa. Die Gräber der Katastrophenopfer sind dort so angeordnet wie die Erwachsenen und Kinder in der Tupolew gesessen hatten. Im Juli 2003 wurde hier ein Denkmal eröffnet, es stellt die Seelen die Verstorbenen dar, die als goldene Papierflieger um eine weiße und eine schwarze Marmorsäule herumwirbeln und in den Himmel steigen. Die Katastrophen-Firma Baschkirian Airlines fliegt indes schon lange nicht mehr: Sie war 2007 pleitegegangen.

Das Unglück hat viele Familien der Opfer in Baschkirien zusammengeschweißt. „Unsere Kinder starben gemeinsam in diesem Flugzeug, darum sehen wir alle uns als eine große Familie“, sagen sie. Manche sind in gleiche Wohnhäuser umgezogen. Die Hinterbliebenen helfen einander, wenn jemand krank wird. Sie gehen gemeinsam in die neuen Moscheen, die sie zum Andenken an ihre Kinder haben bauen lassen. Zu ihrer Familie zählen sie auch die Menschen am Bodensee, die ihnen nach dem Verlust ihrer Nächsten geholfen haben. „Wenn wir nach Deutschland fahren, dann habe ich das Gefühl, dort unsere Verwandten zu besuchen“, sagt Sulfat Chammatov.

Die meisten Toten des Flugs 2937 stammten aus der muslimischen Republik Baschkirien mit 4,1 Millionen Menschen, reich an Erdöl, etwas größer als Griechenland und rund 1500 Kilometer östlich von Moskau gelegen. Die Tragödie des 1. Juli 2002 bleibt dort unvergessen. Dafür sorgte alleine schon der lange juristische Streit der Hinterbliebenen, die die Wahrheit über die Katastrophe erfahren wollten und eine angemessene Entschädigung forderten.

Laut den russischen Medien gingen manche der betroffenen Familien den Weg des außergerichtlichen Vergleichs und erhielten umgerechnet je 150 000 Euro pro Todesopfer. Anderen, wie dem Ehepaar Chammatov, geht es darum, die Schuldigen zu benennen und alle Ursachen der Katastrophe offenzulegen, damit sich ein ähnliches Unglück nicht noch einmal wiederholt. „Ich habe von Anfang an gesagt: Lasst uns keine voreiligen Schlüsse ziehen, es ist besser, wenn ein Gericht ein Urteil fällt“, sagt Chammatov.

Er hat Jahre darauf gewartet, bis die Justiz am Ende die US-Hersteller des Kollisionswarnsystems TCAS und die Schweizer Flugsicherung Skyguide für die fatale Kollision verantwortlich gemacht hat. Auf eine offizielle Reaktion von Skyguide wartet Chammatov nach eigenen Worten aber noch heute. „Ihr Verhalten ist unwürdig, sie nutzen alle Schlupflöcher, um die gerichtliche Entscheidung nicht zu akzeptieren“, sagt er empört.

Als Leiter der Hinterbliebenen-Organisation „Flug 2937“ verlangt Chammatov vom Schweizer Unternehmen, offenzulegen, was mit den angeblich mehr als 60 Millionen Euro aus dem Entschädigungsfonds für die Katastrophenopfer geschehen ist. Vor den Feierlichkeiten zum 15. Jahrestag der Tragödie will er gemeinsam mit seinen Söhnen Timur und Iskandar nach Zürich fliegen und dort die Skyguide-Führung treffen. „Die Verantwortlichen sollen in die Augen meiner Kinder schauen und ihnen erklären, warum sie uns ignorieren“, sagt er.

In Russland sind die Erinnerungen an das Flugzeugunglück von Überlingen heute noch sehr präsent. Die Russen trauern auch 15 Jahre später noch um die Verstorbenen - wie um den kleinen Arthur. Foto: privat
In Russland sind die Erinnerungen an das Flugzeugunglück von Überlingen heute noch sehr präsent. Die Russen trauern auch 15 Jahre später noch um die Verstorbenen - wie um den kleinen Arthur. Foto: privat
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Impressum

Storytelling:
Yannick Dillinger, Christian Schellenberger, Martin Hennings, Simon Haas, Michael Scheyer und Alexei Makartsev
Animation:
David Weinert
Fotos: 
dpa, Martin Hennings, Simon Haas, Michael Scheyer, Archiv der Schwäbischen Zeitung
Musik:
Prelude No. 10 von Chris Zabriskie ist unter der Lizenz Creative Commons Attribution license lizenziert.
Quelle:http://chriszabriskie.com/preludes/
Interpret: http://chriszabriskie.com/
I am a Man who will fight for your honor von Chris Zabriskie ist unter der Lizenz Creative Commons Attribution license lizenziert.
Quelle:
http://chriszabriskie.com/honor/
Interpret: 
http://chriszabriskie.com/
Gymnopedie No 3
von Erik Satie ist unter der Lizenz Creative Commons Attribution license lizenziert.
Quelle: http://incompetech.com/music/royalty-free/index.html?isrc=USUAN1100785
Interpret: Kevin MacLeod http://incompetech.com/
Interloper von Kevin MacLeod ist unter der Lizenz Creative Commons Attribution license lizenziert.
Quelle: http://incompetech.com/music/royalty-free/index.html?isrc=USUAN1100401 
Interpret: www.incompetech.com


Verantwortlich:
Yannick Dillinger
Copyright:
Schwäbische Zeitung 2017 - alle Rechte vorbehalten

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