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Sterben in Deutschland

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Wie ist würdevolles Sterben möglich? Wo sterben Menschen in Deutschland, wo möchten sie sterben? Wieso ist Sterben noch immer ein Tabuthema? Die Schwäbische Zeitung hat Sterben in diesem Jahr zum Thema ihrer Weihnachtsserie gemacht. Texte und Videos finden Sie hier. Ein Schwerpunkt liegt auf der Palliativmedizin. So auch in diesem Storytelling.

Multimedia-Spezial der Schwäbischen Zeitung

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In Baden-Württemberg sterben im Bundesländervergleich die wenigsten Senioren im Krankenhaus. Von allen älteren Menschen über 64 Jahren hätten 41,1 Prozent ihre letzten Lebensstunden in einer Klinik verbracht, heißt es in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung. Bundesweit sind es 45,7 Prozent.

Wäre die Sterbequote im Krankenhaus deutschlandweit so gering, müssten jährlich 37 000 weniger Menschen im Krankenhaus sterben. Allerdings gibt es große Unterschiede innerhalb des Landes: Während im Kreis Freudenstadt gerade einmal 33 Prozent der Senioren im Krankenhaus sterben, sind es in Ulm 48,4 Prozent. 

An Bedeutung gewinnt die Palliativmedizin. Dem Faktencheck Palliativversorgung der Bertelsmann-Stiftung zufolge kommen in Baden-Württemberg 14 Palliativmediziner auf 100 000 Einwohner, im Bundesdurchschnitt sind es knapp 11. Der Südwesten hat zudem die höchste Dichte an ambulanten Hospizdiensten, die Kranke zuhause versorgen. Mehr zum Thema Palliativmedizin erfahren Sie in den folgenden Kapiteln.

Patientenvertreter Eugen Brysch sieht die Entwicklung in Sachen Sterbequalität in Deutschland negativ. Von rund 830 000 Sterbenden im Jahr erhielten nur acht Prozent eine angemessene Pflege und Schmerztherapie, sagt er. „Laut der Weltgesundheitsorganisation sollten es 60 Prozent sein.“ (dpa)
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Was macht die Palliativmedizin?

Im Vordergrund steht das Verhindern oder Verringern von Schmerzen und Depressionen. Palliativmedizin wird dann eingesetzt, wenn bei einer weit fortgeschrittenen Krankheit im Gegensatz zu einer sogenannten kurativen Behandlung keine Chance mehr auf Heilung besteht und die Lebenserwartung begrenzt ist. Es geht um die Verbesserung der Lebensqualität und nicht um die Verlängerung der Lebenszeit.

Was ist der Unterschied zwischen ambulant und stationär?

Immer mehr Krankenhäuser entdecken die Palliativmedizin als Geschäftsfeld für sich und betreiben eigene Stationen. Bei der ambulanten Alternative können die Patienten entweder Zuhause oder im gewünschten Umfeld wie in einem Hospiz bis zum Tod betreut werden. (dpa)
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Warum gibt es zum Thema Palliativversorgung noch so viele Fragen und Unsicherheiten?

Die Palliativmedizin ist eine junge Fachrichtung. Erst seit 2004 wird sie an immer mehr medizinischen Fakultäten ein verpflichtendes Lehr- und Prüfungsfach. Einen Lehrplan gibt es seit 1997. Die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin hat sich 1994 gegründet. Seit 2007 ist im Sozialgesetzbuch (SGB) ein gesetzlicher Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung verankert. (dpa)
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Die Schwäbische Zeitung spendet das Geld, das dieses Jahr bei der Weihnachtsspendenaktion zusammenkommt, für Hospizarbeit im Süden. Chefredakteur Hendrik Groth erzählt im Interview mit Jasmin Off, wieso.

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Eine Reportage von Claudia Kling

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Nein, es ist nicht schlimm, hier zu sein. Die Angst vor den eigenen Emotionen, das ungute Gefühl in der Magengegend bei dem Gedanken, ein Kinderhospiz zu besuchen, waren unbegründet. Das zweistöckige Haus in Bad Grönenbach mit viel Licht von oben und einem großen Garten rundherum ist kein Ort der verzweifelten, lauten Trauer. Es ist in erster Linie ein Ort, an dem sich Eltern und ihre Kinder einfach wohlfühlen sollen. Wo sie schlafen, reden, spielen, entspannen können, je nachdem, wie ihnen zumute ist. Und es ist ein Ort, wo die Dinge im Lot sind, auch wenn das für Außenstehende erst einmal schwer nachzuvollziehen ist.

Kinderhospiz. Der Name klingt gleichzeitig schön und schrecklich. Schön, weil Hospiz das lateinische Wort für Herberge ist. Schrecklich, weil er in heutiger Zeit mit Sterbebegleitung gleichgesetzt wird – und damit sollten doch Kinder nichts zu tun haben. Doch es gibt sie eben, diese heimtückischen Krankheiten, die Kinder nicht erwachsen werden lassen. Krebs und Tumore sind nur ein kleiner Teil von ihnen, zirka drei Prozent. „Wir sehen uns zuständig für die Kinder mit den vergessenen Krankheiten“, sagt Anita Grimm, die Leiterin des Kinderhospizes St. Nikolaus. Muskelerkrankungen, Stoffwechselkrankheiten, die so selten sind, dass sie nicht einmal einen Namen haben, und die einem Kinderarzt vielleicht ein- bis zweimal unterkommen im Laufe seines Berufslebens. Manchmal dauert die Diagnose eines solchen Leidens so lange, dass es für die Eltern eine Art Erlösung ist, endlich zu wissen, woran ihr Kind krankt.

Kinderhospiz – in gewisser Weise ist dieser Begriff ein wenig unglücklich. Denn wer Hospiz hört, denkt sofort an einen Ort des Sterbens, an dem Todgeweihte ihre letzten Tage verbringen. Bei Erwachsenenhospizen mag diese Vorstellung ja auch stimmen, aber eben nicht bei Kindern. Nach Bad Grönenbach, eines von 14 Kinderhospizen in Deutschland, können Eltern bereits dann kommen, wenn die Diagnose feststeht, dass ihr Kind eine unheilbare, lebensverkürzende Krankheit hat. Die meisten sind also nicht erst zu Gast, wenn der Tod eines Kindes unmittelbar bevor steht, sondern wenn sie eine Auszeit von der Pflege brauchen oder Hilfe bei dem Gedanken, dass ihr Kind vor ihnen gehen wird. Doch der erste Schritt in Richtung Hospiz fällt vielen Eltern schwer.

„Ich habe lange gebraucht, bis ich angerufen habe“, sagt Claudia Fasching, die Mutter des sechsjährigen Fabio, der an Gangliosidiose GM1, einer seltenen Stoffwechselkrankheit, und Nebenerkrankungen wie Epilepsie leidet. Erst nach einem Besuch beim jährlichen „Tag der offenen Tür“ habe sie sich ein Herz gefasst. Der erste Aufenthalt im Hospiz hatte bei ihr zur Folge, dass sie die Krankheit ihres Sohnes mit all ihren Konsequenzen annehmen konnte. „Als ich wieder zu Hause war, hatte ich die Kraft, die Beerdigung meines Sohnes vorzubereiten. Die Unterlagen liegen jetzt in einer Schublade“, sagt sie. Für alle Fälle. Aber sie hat auch eine Freundin gefunden im Hospiz. Ulrike Reinisch-Ganz, die Mutter des 18-jährigen Levi, der eine medikamentenresistente Form von Epilepsie hat. Sie ist inzwischen zum dritten Mal im Hospiz, obwohl auch sie sich viele Jahre dagegen gesträubt hatte. „Es dauerte lange, bis ich gemerkt habe, dass ich Unterstützung brauche.“

Bis zu 28 Tage stationären Hospizaufenthalt pro Jahr bezuschussen Kranken-und Pflegeversicherung. Das, was sie bezahlen, reicht aber nicht, um die tatsächlichen Kosten zu decken. Und es reicht erst recht nicht für den Aufenthalt beider Eltern und von Geschwistern. „30 Prozent der Gesamtkosten übernehmen die Kassen, 70 Prozent finanzieren wir aus Spenden“, sagt Sabine Colberg, Geschäftsführerin der gemeinnützigen Kinderhospiz GmbH. Für den in Memmingen ansässigen Förderverein Kinderhospiz im Allgäu e.V. bedeutet das: Er muss mindestens eine Million Euro Spenden im Jahr sammeln. „So viel brauchen wir, um den Betrieb aufrecht zu erhalten“, sagt Colberg.

Der Betrieb – ein kühles Wort für das, was in Bad Grönenbach seit März 2007 gemacht wird. Geht es doch rund um die Uhr um Menschen, um große, kleine, kranke und gesunde. Die Pflegerinnen und Pfleger arbeiten im Drei-Schicht-System, so dass immer jemand für ein krankes Kind da ist. Und sie sind maximal für zwei Kinder gleichzeitig zuständig, je nachdem, wie pflegeintensiv ein Patient bereits ist. Für die Eltern, die meisten von ihnen kommen aus Süddeutschland, wirkt es wie ein Kurzurlaub, wenn sie ihr Kind fachgerecht und liebevoll versorgt wissen.

„Ich bin im Zombie-Zustand hier angekommen“, sagt Michaela Kuhle aus Friesenhofen bei Leutkirch. Ihre 20-jährige Tochter Jorinde braucht im Grunde eine 24-Stunden-Pflege, sie ist als Kind in einen Teich gefallen und seither schwerstbehindert. „Sie kann verdauen, lachen und schlafen“, sagt ihre Mutter. Alles andere übernehmen sie, ihr Mann und eine ambulante Pflegekraft. „Ich genieße es so, hier zu sein, weil man sich nicht so alleine fühlt, weil die anderen Familien wissen, wovon man spricht“, sagt Michaela Kuhle.

Auch wenn die Biografien der Familien ganz unterschiedlich sind, so fühlen sich die Frauen, die derzeit im Kinderhospiz zu Gast sind, doch miteinander verbunden. Mit einer Klage beispielsweise über schlechtes Wetter muss man ihnen nicht kommen. „Ich staune immer, worüber sich Menschen aufregen können“, sagt Alexandra Schilling, Mutter des 14-jährigen Steffen, der wegen einer Muskelerkrankung im Rollstuhl sitzt. „Mich bringt nicht mehr so viel aus der Ruhe.“ Für die Eltern, die hier im Kinderhospiz zu Gast sind, zählen andere Sachen: schlafen zu können ohne kleines oder großes Kind im Bett, einen Raum für sich zu haben ohne ständig wechselndes Pflegepersonal in der eigenen Wohnung, dass sie gefragt werden, wie es ihnen und ihrer Beziehung geht – das alles ist ein großer Gewinn für sie.

Es ist Mittagszeit in St. Nikolaus. Im großen Ess- und Wohnbereich im Erdgeschoss des Gebäudes ist ein Buffet aufgebaut – Salat, Nudeln, Knödel, Soße, Fleisch und Dessert. An den Holztischen sitzen Mütter, Kinder und die Mitarbeiter des Hospizes. Die 20-jährige Jorinde liegt in einer Art Kinderwagen für Große. Der zweijährige Korbinian, der wegen einer Infektion in der Schwangerschaft schwer behindert ist und keine Minute allein gelassen werden kann, fühlt sich am wohlsten in den Armen seiner Mutter, Carmen Hartmann. Ihre größere Tochter, die dreijährige Sophie-Louise, sitzt neben den beiden und hat alles fest im Blick. Auch wenn die Mutter mit ihren Kindern im Auto unterwegs ist, passt die Dreijährige bereits von sich aus auf ihren Bruder auf – achtet auf die ersten Anzeichen eines Krampfanfalles. Ein typisches Verhalten eines sogenannten Geschwisterkindes. Ihr Lebensweg wird unweigerlich von der besonderen Familiensituation geprägt. Deshalb ist es den Hospizmitarbeitern in Bad Grönenbach so wichtig, dass sie dabei sein können.

„Die Geschwisterarbeit ist sehr intensiv bei uns“, sagt die Sozialpädagogin Petra Neumayr-Holl. Genauso wie für die Eltern gibt es spezielle Gesprächsrunden für Geschwister, sie können darüber sprechen, was sie bewegt, und Kontakte knüpfen über die Zeit des Hospizaufenthaltes hinaus. Das kommt gut an bei den Kindern und Jugendlichen, die oft jahrelang zurückstecken müssen. Nur bezahlt wird ihr Aufenthalt im Hospiz von keiner Krankenkasse. „Auch das finanzieren wir über Spenden“, sagt Hausleiterin Anita Grimm. Die gelernte Kinderkrankenschwester, die früher auf einer Intensivstation gearbeitet hat, ist seit der Eröffnung des Kinderhospizes im März 2007 dabei. Wie geht sie damit um, so viele Familien auf einem letztlich doch traurigen Weg zu begleiten? „Die Arbeit hier zieht einen nicht runter“, sagt sie. „Man gibt nicht nur, man bekommt auch etwas geschenkt.“ Und, das ist ganz besonders wichtig für ihre Arbeit: „Hier haben die Kinder und die Eltern den Hut auf. Und hier dürfen die Kinder gehen, wenn es soweit ist.“

Gehen lassen – eine große Herausforderung für Menschen, die ihren Liebsten verlieren. Wie viel Kraft mag es den Müttern und Vätern mit kranken Kindern abverlangen, sich ins Unvermeidliche zu fügen? Im Flur im Erdgeschoss des Kinderhospizes hängen rechts und links an den Wänden mehr als 400 bunte Stofffahnen – mit Namen, Geburtsdatum und unterschiedlichen Motiven darauf. Prinzessinnen, Baggerfahrer, Sonnen, Blumen, Tiere – so wie die Eltern ihre kranken Kinder sehen. Und an einer speziellen Pinnwand im Gang sind die Fahnen der Kinder befestigt, die gerade zu Gast sind – Levi, Jorinde, Steffen, Emilie, Fabio, Korbinian ist darauf zu lesen. Das gehört zum hauseigenen Fahnenritual.

Draußen im Garten gibt es auch einen Platz, an dem Dutzende Fahnen hängen. Viele von ihnen sind nicht mehr so schön anzusehen, ihr Stoff ist zerschlissen, von der Sonne ausgebleicht. Auch sie gehörten Kindern, die im Hospiz zu Gast waren und inzwischen gestorben sind. „Das ist unser Erinnerungsgarten“, sagt Brigitte Waltl-Jensen, die für den Verein Kinderhospiz im Allgäu die Öffentlichkeitsarbeit macht. Bevor die Fahnen komplett zerfallen, werden sie verbrannt und die Asche vergraben – auch das ist Teil des Rituals. 117 Kinder und Jugendliche, die vom Hospiz betreut wurden, sind in den vergangenen acht Jahren gestorben, 17 von ihnen im Haus in Bad Grönenbach.“

Kinderhospiz – ein schönes und ein schreckliches Wort. Angenommen sein und Abschied nehmen – beides steckt darin. „Der Begriff ist genau der Richtige, weil wir Kinder betreuen, die jederzeit sterben können“, sagt Hausleiterin Anita Grimm. „Hospiz heißt auch schützende Ummantelung – und die bieten wir vielen Kindern, und den meisten erfreulicherweise über einen längeren Zeitraum.“
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Im Interview mit Chefredakteur Hendrik Groth fordert Franz Müntefering, der ehemalige SPD-Vorsitzende und langjährige Bundesminister, dass mehr Palliativärzte und -fachkräfte ausgebildet werden.

Herr Müntefering, wie stellen Sie sich zeitgemäße Hospizarbeit vor?

Sich ganz auf den Menschen einlassen, der stirbt. Ihm helfen. Zeit für ihn haben. Wissen, dass Heilung nicht mehr möglich ist. Sterben zulassen, wenn der Mensch erschöpft ist. Das ist die größte und beste zivilgesellschaftliche Bewegung, die in den letzten Jahrzehnten wirksam wurde und wuchs. Alle, die Hauptamtlichen und die Ehrenamtlichen, haben Respekt und Dank verdient. 

Was erwarten Sie nun von Palliativmedizinern und Hospizen?

Dass in allen Pflegeeinheiten auch Geld und Zeit und Qualifikation verfügbar ist für gute Sterbebegleitung nach den Maßstäben heutiger Hospiz- und Palliativversorgung.

Reicht das Gesetz zur Finanzierung aus, um den Anforderungen einer alternden Gesellschaft gerecht zu werden?

Wichtig ist, dass die SAPV (Spezialisierte ambulante Palliativ-Versorgung) überall garantiert wird, auch ambulant, auch in Heimen, auch in den dünner besiedelten Regionen. Dass Bund und Länder dafür sorgen, dass die nötige Zahl von Palliativärzten und -fachkräften ausgebildet wird, damit die gesetzlich garantierten Hilfen auch realisiert werden können.

Was Müntefering zu Sterbehilfe und selbstbestimmtes Leben und Sterben denkt, sehen Sie im nun folgenden Videointerview und lesen Sie in der Langfassung des Interviews

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Der Ex-SPD-Bundesvorsitzende und ehemalige Minister Franz Müntefering hat in diesem Jahr bei einer Podiumsdiskussion im Medienhaus in Ravensburg seinen Standpunkt zum Thema Sterbehilfe klar gemacht.

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Eine Reportage von Klaus Nachbaur

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Von heute auf morgen geht das gewiss nicht: Mit dem Gedanken zu leben, dass das Leben sehr bald enden wird. Und wenn dieser Gedanke sich doch verankert hat, dann ist das verbleibende Leben kein fröhliches mehr. Ein gelassenes bestenfalls. Mit fröhlichen Momenten vielleicht. So könnte das hier sein. 65Jahre alt ist der Patient. Er liegt im linken Teil des Ehebetts, halb sitzend, weil das Kopfteil hochgestellt und mit Kissen angefüttert ist. Die Bettdecke geht bis zur Brust. Er trägt eine Brille mit schwarzem Hornrahmen, sein Dreitagebart in dem schmal gewordenen Gesicht steht ihm gut.

Er hat wache Augen, die Gesichtsfarbe ist wie nach einem Urlaub im Süden. Nur ist das Braun gelblich. Das kommt von der Leber, die nicht mehr richtig funktioniert, weil sie voller Metastasen ist. Neben dem Bett, vor der Madonna mit Jesuskind und der weißen Kerze, steht ein Metallständer, da sind aufgehängt der Beutel für die künstliche Ernährung und der Beutel mit der Schmerzpumpe. Auf der rechten Hälfte des Ehebetts – im Schneidersitz – bewacht die Tochter den Kranken, seine Frau steht vor dem Bett, und die völlig fremden Besucher, die wissen wollen, wie das ist, daheim sterben zu dürfen, wenn man schon sterben muss, sind ein wenig befangen. „Dank der Pflege geht’s mir eigentlich ganz gut“, sagt der Patient sehr ruhig.

Es ist einer der ersten Wintertage dieses Jahres, die Sonne scheint ins Zimmer, der Blick geht durchs rechte Fenster ins Grüne. Ein paar Hundert Meter weiter oben, auf den Nadelbäumen, sitzen Reste vom ersten Schnee. Man kann ahnen: Es weihnachtet bald. Simone Meisert, die pflegerische Leiterin des ambulanten Palliativdienstes „Clinic Home Interface“, hat ein Nadelgesteck mit einer roten Kerze mitgebracht, und die Ehefrau des Patienten freut sich. Die beiden begrüßen sich mit einer Umarmung. „Es geht nur mit den Angehörigen, die Angehörigen sind am wichtigsten“, sagt sie.

Hier geht es sehr gut. Noch bis zum vergangenen Freitag war der Patient im Krankenhaus. Eine weitere Chemotherapie stand an. Er war aber zu schwach, um sie durchzustehen. Dann hat er sich selber entlassen, wollte nur nach Hause. „Wir haben das geschafft, weil ich die Notfallkassette genommen habe“, sagt Simone Meisert. Und nicht zuletzt, weil das geklappt hat, lässt dieser sterbenskranke Mann wildfremde Menschen in sein Haus, in seinen Intimbereich, um danke zu sagen für das, was ihm „Clinic Home Interface“ ermöglicht. Er formuliert es so: „Deshalb habe ich mich einwickeln lassen ...“. Er erzählt dann - wieder sehr gelassen, bisweilen lächelnd -, was ihm wichtig war. Das Haus, das er vor 30 Jahren mit eigenen Händen und der Hilfe von Freunden gebaut hat, der Garten, der Beruf, aus dem er vor fünf Jahren („das war ja die Zeit der Krise“) kerngesund ausgeschieden ist mit vielen Plänen für den Ruhestand.

Er erzählt auch seine Krankheitsgeschichte. 2013 hat man einen Tumor im Darm entdeckt, er wurde operiert, kam in Reha, alles schien gut zu werden. Am 23. September 2014 – seine Frau hat alles akkurat aufgeschrieben – tauchte eine Metastase in der Leber auf - und dann ging es schleichend abwärts. Im Juni 2015 hat er noch relativ unbeschwert seinen 65. Geburtstag gefeiert, aber dann setzten die Bauchschmerzen ein („dass ich an den Wänden hätte hochgehen können“), es folgte eine neue Chemo, der Gallengang musste mit einem Stent und noch einem repariert werden und und und. Irgendwann „war es für ihn einfach das Wichtigste, zu Hause zu sein“, sagt Simone Meisert, und der Mann nickt. „Na liega kann i au doheim“, meint er. Und mit seiner Versorgung ist er sehr zufrieden: „Das ist ein sehr freundliches, gutes Personal“. Ja, es sei „schon ein bisschen schwierig“, nichts mehr machen zu können, aber sein Schicksal hat er „voll akzeptiert“. Er habe „immer den Blick nach vorn“, sagt er, das Auto der Tochter wolle er noch gut verkaufen, der Autohandel sei immer schon ein kleines Hobby von ihm gewesen. Bisweilen wechselt er vom Möglichen ins unmöglich Gewordene. „Mir brauchet eigentlich gar it in Urlaub gange“, weil es ja daheim so schön sei, aber dann kommt ihm: „Das ist jetzt alles rum.“ Gar nicht verbittert. Simone Meisert fragt ihn, wie er heute seinen Schmerzzustand einschätze auf einer Scala von eins bis zehn. Er überlegt kurz und sagt dann: „drei“. Sie stellt die Schmerzpumpe neu ein, kündigt ihren nächsten Besuch für übermorgen an.

Seine Frau hat heute extra einen Kuchen gebacken. Die Palliativpflegerin und die Besucher trinken Kaffee, und die Frau sagt, dass sie sehr froh sei, ihren Mann daheim zu haben. Und dass sie „Clinic Home Interface“ dafür dankbar sei. „Wir sind Gast in den Häusern“, umschreibt Simone Meisert den Teil ihres Berufs, der nicht direkt mit dem Anbringen und Bedienen von Morphin-Kassetten zu tun hat. Sie meint damit: Es ist ganz wichtig, dass Patienten, ihre Angehörigen und die Mitarbeiter von „Clinic Home Interface“ ein Team bilden, dass sie sich vertrauen, dass sich im besten Fall ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, eine Art Schicksalsgemeinschaft auf Zeit. „Wir versuchen ja auch, mit kleinen Tipps und Tricks zu helfen“, sagt Meisert. Das kann die Beschaffung einer speziellen Trinkflasche sein, das kann Lavendelöl zum Einmassieren sein, das sind aufmunternde, tröstende Gespräche mit Angehörigen.

Bisweilen entsteht aus einem Todesfall sogar eine lebendige Freundschaft. Bettina Geiger hat vor zweieinhalb Jahren ihren Mann verloren. Er starb mit 55 Jahren an Krebs. Simone Meisert hat ihn die letzten Wochen seines Lebens begleitet, hat es ihm und der Familie ermöglicht, dass er in der vertrauten Umgebung daheim gehen konnte. Wenn sie heute in das kleine Haus der Geigers in Friedrichshafen kommt, wird sie von einer Freundin begrüßt. Sehr, sehr herzlich. Abgeschlossen ist der frühe Tod ihres Mannes für Bettina Geiger nicht. Sie bräuchte gar nicht zu sagen: „Er war die Liebe meines Lebens“ – im Haus und im Garten ist die Erinnerung an ihren „Gebs“ vielfältig wachgehalten. Im Esszimmer steht ein großes Foto, es zeigt einen Menschen mit Brille und Bart voller Lebensfreude, davor brennt in einer rot ausgemalten Schale eine Kerze. An der Wand hängen viele weitere Fotos. Auch vor dem Nussbaum im Garten steht eine Kerze mit Foto. Das Steinbänkle unter dem Nussbaum war der Lieblingsplatz der beiden. Er hat ihr vor seinem Tod gesagt, wenn sie draußen sitze, „dann treffen sich dort unsere Seelen“. Bettina Geiger sitzt sehr oft unter dem Nussbaum und trinkt eine Tasse Kaffee.

Der Dozentin für Sozialpädagogik ist es auch nach diesen zweieinhalb Jahren wichtig, zu erzählen, weiterzugeben, wie sehr die ambulante Palliativversorgung ihrem Mann, ihrem Sohn und ihr geholfen hat. Die Hilfe, sie dauerte eigentlich nur knapp vier Wochen, vom 12. Juni 2013 bis zum 3. Juli, dem Todestag von Gebhard Geiger. Aber seine Witwe sagt heute: „Das war ein ganz wichtiger Monat, eine ganz große Unterstützung für meinen Mann und mich.“ Der Todkranke wollte eigentlich am liebsten niemanden im Haus haben, die Pflegekräfte von „Clinic Home Interface“ waren aber willkommen. Die Hausärztin sei glücklicherweise immer erreichbar gewesen, ihr Mann habe sich „sehr geborgen“ gefühlt, sagt Bettina Geiger. „Es war ganz wichtig, ihm die Würde zu lassen“, ergänzt Simone Meisert. Die Pflegedienstleiterin hat im Prinzip ein einfaches Rezept für den Umgang mit den Patienten und ihren Angehörigen entwickelt: „Das, was ich meiner eigenen Familie sagen würde, das sage ich auch den Patienten, die mir anvertraut sind.“

Der Dozentin für Sozialpädagogik ist es auch nach diesen zweieinhalb Jahren wichtig, zu erzählen, weiterzugeben, wie sehr die ambulante Palliativversorgung ihrem Mann, ihrem Sohn und ihr geholfen hat. Die Hilfe, sie dauerte eigentlich nur knapp vier Wochen, vom 12. Juni 2013 bis zum 3. Juli, dem Todestag von Gebhard Geiger. Aber seine Witwe sagt heute: „Das war ein ganz wichtiger Monat, eine ganz große Unterstützung für meinen Mann und mich.“ Der Todkranke wollte eigentlich am liebsten niemanden im Haus haben, die Pflegekräfte von „Clinic Home Interface“ waren aber willkommen. Die Hausärztin sei glücklicherweise immer erreichbar gewesen, ihr Mann habe sich „sehr geborgen“ gefühlt, sagt Bettina Geiger. „Es war ganz wichtig, ihm die Würde zu lassen“, ergänzt Simone Meisert. Die Pflegedienstleiterin hat im Prinzip ein einfaches Rezept für den Umgang mit den Patienten und ihren Angehörigen entwickelt: „Das, was ich meiner eigenen Familie sagen würde, das sage ich auch den Patienten, die mir anvertraut sind.“
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Im Spaichinger Hospiz am Dreifaltigkeitsberg steht der Weihnachtsbaum schon lang. Julia Baumann war vor Ort und berichtet in diesem Video, wie Schwerkranke dort Weihnachten feiern.

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Das Leben kann auch bei Krankheit oder Behinderung gelingen: Die Theologin Monika Bobbert, Professorin für theologische Ethik und Sozialethik an der Universität Luzern, fordert, Selbstbestimmung und Souveränität nicht nur im gesunden und erfolgreichen Leben zu sehen, sondern auch bei Menschen, die Hilfe brauchen. Daher sei die Hospizbewegung wichtig, sagt sie im Gespräch mit Ludger Möllers.

Frau Bobbert, wie sieht Selbstbestimmung am Lebensende aus?

Es ist gut, dass im November das Hospiz- und Palliativgesetz beschlossen worden ist. Zwar wird es in den nächsten Jahrzehnten sicher noch Nachbesserungen brauchen, allein schon in finanzieller Hinsicht. Aber diese Struktur führt dazu, dass wir wissen: Wenn wir schwer krank sind oder wenn sich das Sterben ankündigt, werden wir gut versorgt. Das heißt: Wir haben gute Wahlmöglichkeiten. Und die Betonung liegt auf „gut“. Wir müssen nicht zwischen Leid und Tod wählen. Sondern wir haben verschiedene Wege, wie wir die letzte Lebensphase gehen können. Entweder zu Hause mit ambulanter Versorgung oder in einem Pflegeheim mit guter Palliativversorgung oder als Akutfall in einem Krankenhaus.

Was sagen Sie Leuten, die schwer krank sind, die leidend sind und im Grunde von sich sagen: Ich lebe gar nicht mehr?

Ich muss nicht sofort etwas sagen. Ich höre vielleicht erst einmal zu: Was hat mein Gegenüber zu erzählen? Was belastet ihn, warum ist er freudlos? Aus der Hospiz- und Palliativversorgung höre ich von Ärzt(inn)en und Pflegenden, dass Patienten, die zwischendurch sagen, sie wollen sterben, auch wieder gute Momente haben. Dies hängt sicherlich davon ab, wie gut sie versorgt werden. Wenn ich sage: ,Ich will nicht mehr leben’, dann heißt das doch zunächst einmal: ,So, wie es jetzt ist, ist es schrecklich.’ Das ist ein Appell, etwas zu verändern. Eine Selbsttötung oder Tötung kann nicht die Lösung sein.

Sie plädieren dafür, Leuten, die schwerstkrank sind, eine Lösung zu ermöglichen, dass sie wieder ,Ja’ zum Leben sagen können?

Ja, das ist unsere Aufgabe und die Aufgabe derer, die um einen schwer kranken Menschen herum sind. Die Menschen im Umfeld müssen im Dialog mit dem Betroffenen Mittel und Wege suchen. Insgesamt sind Fürsorge, Engagement und „Möglichkeitssinn“ gefragt. Das Wertvollste, was wir einem Menschen schenken können, ist Zeit. Ehrenamtliche in der Hospizbewegung, die ihre eigene Lebenszeit einbringen, machen die Erfahrung, dass dies ihrem eigenen Leben Intensität und Tiefe gibt.
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Storytelling:
Yannick Dillinger

Texte, Fotos, Videos:
Claudia Kling, Ludger Möllers, Hendrik Groth, Klaus Nachbaur, dpa

Videos:
Julia Baumann, Colourbox (Intro)

Kontakt:
online@schwaebische.de

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