Eine Multimedia-Reportage von Simon FedererMehr als Blutgrätschen und BeschimpfungenSchiedsrichter im Kreisliga-Alltag
Aber wie ist die Lage in der Region wirklich? Was motiviert die Menschen, über Abseits und Elfmeter zu entscheiden?
Wir haben in drei Wochen drei Schiedsrichter auf dem Sportplatz und bei einem Schulungsabend begleitet und nach Antworten gesucht.
Rückblick auf drei Wochen Fußball
Dass die Spiele so ruhig verliefen, könnte auch damit zusammenhängen, dass sie im April stattfanden. Die ruhigste Spielzeit im Verlauf der Saison sei die erste Hälfte der Rückrunde, erklärt Wissenschaftlerin Thaya Vester.
In einer Befragung der Wissenschaftlerin gaben rund 10 Prozent der Schiedsrichter an, dass sie noch nie beleidigt worden seien. Vester sagt: "Es gibt durchaus auch diese positiven Erfahrungen."
Positive Erfahrungen und Respekt
Und selbst wenn es zu einem gewaltbedingten Spielabbruch kommt, kann dies das Bewusstsein schärfen: Dass die Schiedsrichterin Adriana Fetscher bei einem Spiel geschlagen wurde, führte offenbar in diesem Punkt bei einigen Kickern zum Nachdenken und zu einer Sensibilisierung.
Übrigens: Das Vorurteil, dass Probleme vor allem mit Mannschaften mit hohem Migrationshintergrund auftreten, hat sich im Spiel des FC Birumut Ulm gegen den SV Grimmelfingen nicht bewahrheitet.
Kreisliga ist mehr
Das ist die Anspannung der Spieler, ein Tor schießen zu müssen, weil die Mannschaft sonst auf einen Abstiegsplatz abrutscht. Und die Erleichterung und Freude, wenn das Tor gefallen ist.
Das ist die Currywurst nach Spezialrezept, die in der Halbzeitpause verspeist wird. Das sind die Zuschauer, die lauthals "Foul" oder "Abseits" auf Spielfeld rufen - und der Schiedsrichter kein Problem damit hat.
Das sind die Spielsituationen, in denen Spieler und Schiedsrichter unterschiedliche Meinungen vertreten und miteinander diskutieren - und nach dem Spiel in der "dritten Halbzeit" trotzdem gemütlich bei einem Bier zusammensitzen.
Und am nächsten Wochenende geht alles wieder von vorne los - gerne hochemotional, aber doch bitte gewaltfrei.
Impressum
Recherche, Texte und Umsetzung:
Simon Federer
Fotos:
Simon Federer, Marcus Fahrer/dpa (Kapitel 2), Patrick Seeger/dpa (Kapitel 2), Noah Wedel/imago (Kapitel 3), dpa (Impressum)
Kamera:
Svenja Helfers (Kapitel 1), Simon Federer (Kapitel 2 und 4), Lea Dillmann (Kapitel 3 und Titel)
Schnitt:
Yannick Rehfuss, Lea Dillmann und Simon Federer
Verantwortlich:
Andreas Müller und Jürgen Mladek
Schwäbische Zeitung
Karlstraße 16
88212 Ravensburg
www.schwaebische.de
Darum steht "Turbo" seit 40 Jahren auf dem Fußballplatz
Vereinskollegen haben ihm den Spitznamen vor vielen Jahren gegeben, als er viel Zeit brauchte, um einen Pass abzuholen. Damals kam der Golf GTI auf den Markt, und die Kameraden forderten von Karl Vollmer: Er soll endlich den Turbolader anschalten.
40 Jahre lang pfeift der Schiedsrichter Spiele, hauptsächlich in der Kreisliga. Ans Aufhören denkt "Turbo" nicht.
Karl Vollmer
Beruf: Groß- und Außenhandelskaufmann
Schiedsrichter seit: 40 Jahren
Schiedsrichtergruppe: Wangen
Verein: SV Aichstetten
Viele Ihrer Kollegen sprechen von einer sinkenden Hemmschwelle. Was motiviert Sie, trotzdem immer noch am Ball zu bleiben?
Allein verantwortlichKarl Vollmer im Spiel TSV Eschach II gegen TSG Bad Wurzach
Die Spieler und Zuschauer betrachten das Spiel aus der Perspektive der jeweiligen Mannschaft. Wie wäre es, einmal die Perspektive des Schiedsrichters einzunehmen? Scrollen Sie dafür weiter.
Foul, Freistoß, falsch ausgeführtEine Spielsituation aus Sicht von Karl Vollmer
„Wir freuen uns am Leben und sind froh, dass wir unserem Hobby nachgehen können. Und wir können auch verlieren.“Alessandro Fatigati, Trainer TSV Eschach II
Der Eschacher Trainer Alessandro Fatigati erzählt: Schon das vierte Jahr in Folge sei der TSV Eschach II an der ersten Stelle in der Fairplay-Tabelle, bislang habe das Team nur 14 Gelbe Karte bekommen und keinerlei Gelb-Rote Karte.
Das liegt am Verein, erklärt der Trainer. Auch die erste Mannschaft des TSV, die in der Landesliga spielt, nehme einen der oberen Ränge in Sachen Fairplay ein.
Nicht immer geht es in der Kreisliga so fair zu. Scrollen Sie weiter, um andere Schiedsrichter kennenzulernen, die schon negative Erfahrungen gemacht haben.
Eine Schiedsrichterin trotzt der Gewalt
Bevor Adriana Fetscher Unparteiische wurde, dachte sie: "Das ist doch voll einfach, die Schiedsrichter machen aber nur Fehler." Heute weiß sie: Oft gebe es verschiedene Sichtweisen auf Schiedsrichter-Entscheidungen.
Nicht alle männlichen Spieler hören allerdings gerne auf eine Schiedsrichterin. Adriana Fetscher hat deshalb schon eine schmerzhafte Erfahrung machen müssen.
Adriana Fetscher
Beruf: Studentin
Schiedsrichterin seit: 2017
Schiedsrichtergruppe: Ulm/Neu-Ulm
Verein: SF Dettingen/Teck
Ins Gesicht geschlagen
Es war ein von Anfang an schwieriges, hitziges Spiel im Fußballbezirk Donau/Iller, wie Adriana Fetscher es schildert. Es lief bereits die 89. Minute. Ein Jugendspieler akzeptierte eine Entscheidung der 25-jährigen Schiedsrichterin nicht - und beleidigte sie prompt heftig: "Du Fotze!"
Noch bevor sie ihm die Rote Karte für die Beleidigung zeigen konnte, schlug der 16-Jährige ihr mit voller Wucht ins Gesicht.
Wenn das Spiel nicht zu Ende gespielt wird
In den Saisons 2018/2019 und 2019/2020 wurden 973 Spiele oder jedes 2415. Spiel gewaltbedingt abgebrochen; allein in der Saison 2021/22 waren es schon 911 Spiele oder umgerechnet jedes 1339. Spiel.
Gewalthöhepunkt im Herbst
Dabei stellte sie fest, dass es im Spätherbst am meisten Spielabbrüche gibt. Am Anfang der Saison gebe es vergleichsweise wenige Fälle, die Zahl steige im Spätherbst "extrem" an, sagt Vester. Und sei deutlich höher als zum Saisonende hin - was man so nicht unbedingt erwarten würde, meint Vester. Denn dann geht es schließlich um Aufstieg oder Abstieg.
Weitere Erkenntnisse der Studie:
- Spiele werden häufig in den letzten drei Minuten vor der Halbzeit abgebrochen.
- Insbesondere Einwechselspieler fallen negativ auf.
- Bei mehr als einem Drittel der Spiele sah sich der Schiedsrichter selbst in Gefahr.
Scrollen Sie weiter, um zu erfahren, wie Adriana Fetscher mit der Gewalterfahrung umgeht.
Wie werden Sie mittlerweile von den Spielern behandelt?
Positive RückmeldungSV Oberelchingen gegen FC Hüttisheim (Reserve)
Der Oberelchinger Stadionsprecher Tobias Glöckle sagt, es sei im Jahr 2023 ganz normal, dass eine Frau ein Herren-Spiel pfeift, es mache keinen Unterschied, ob der Unparteiische männlich oder weiblich sei.
Dass man oft von Gewalt-Vorfällen höre, sei ein „Armutszeugnis“, meint Glöckle. „Ich muss mich nicht in der zweitniedrigsten Klasse am Feiertag beleidigen lassen.“
Der Pädagoge kennt seine Jungs - und keine RisikospieleHans-Peter Pecher
Jetzt ist Pecher nicht nur Schiedsrichter, sondern auch Jugend-Spielleiter im Bezirk Donau/Iller. Der 1,90-Meter große Mann kennt viele der Spieler schon seit Jahren.
Hans-Peter Pecher
Beruf: Versicherungsmakler
Schiedsrichter seit: 15 Jahren
Schiedsrichtergruppe: Ulm / Neu-Ulm
Verein: SC Lehr
Beeinflussbare Schiedsrichter?Hans-Peter Pecher im Spiel FC Birumut Ulm gegen SV Grimmelfingen (Reserve)
Und dennoch habe er bei Kreisliga-Schiedsrichtern im Allgemeinen beobachtet: „Die Schiris sind immer sehr alt, die kommen nicht hinterher.“ Außerdem seien sie beeinflussbar. „Wenn du jetzt von außen reinschreist: Foul, pfeift der einfach Foul.“ Oder eben Abseits. Was ihm bei Schiedsrichtern fehle, sei eine eigene Meinung. „Das beobachte ich schon seit Jahren.“ Allerdings sei heute wenig los, weil es regnet, deshalb gebe es auch weniger Rufe.
Wie Hans-Peter Pecher dies empfindet, erklärt er im Interview.
Was tun Sie, wenn ein Zuschauer etwas aufs Spielfeld ruft?
"Birumut" heißt "Eine Hoffnung"
Der FC Birumut Ulm wurde Ende der 80er-Jahre von Migranten aus der Türkei gegründet. "Birumut" bedeutet soviel wie "Eine Hoffnung", verrät Anil Aslaner. Heute seien im Verein, der außer Fußball keine Abteilungen hat, verschiedenste Menschen mit Migrationshintergrund vertreten, hauptsächlich Türkischstämmige.
Aslaner ist zufrieden mit der Schiedsrichterleistung von Hans-Peter Pecher. Man merke die Erfahrung, sowohl sportlich als auch pädagogisch-zwischenmenschlich. Aber jeder Schiedsrichter in der Kreisliga sei anders.
Ein unerlaubter Spielabbruch
Beide Mannschaften wurden für den Spielabbruch bestraft; das Spiel wurde also als verloren gewertet und sie mussten eine Geldstrafe zahlen. Denn im Sportrecht obliegt es nur dem Schiedsrichter, ein Spiel zu beenden. Das Verbandsgericht, das höchste Gericht im Gebiet des Württembergischen Fußballverbands, wies die Einsprüche von Birumut und Söflingen zurück.
Man kennt sich
Diese Nähe zeigt sich auch im Spiel. Hans-Peter Pecher spricht viel mit den Jungs, lächelt, reicht solchen die Hand, die auf dem Boden liegen, er klatscht mit Spielern ab, die ausgewechselt werden.
Es steht unentschieden, 2:2, gleich wird das Spiel abgepfiffen. Doch dann wird es vor dem Tor Birumuts hitzig. Spieler geraten aneinander, diskutieren, gestikulieren, weitere Spieler kommen hinzu. Hans-Peter Pecher kommt herbei, andere Mitspieler halten die Streitlustigen zurück.
Pecher pfeift die zwei Spieler herbei und zeigt ihnen die Gelbe Karte. Die beiden reichen sich die Hand. Pecher pfeift das Spiel ab.
Eine Schiedsrichterschulung mit Gelben Karten und Humor
Rund 60 Schiedsrichter, darunter Hans-Peter Pecher, und eine Schiedsrichterin, Adriana Fetscher, sind zum verpflichtenden Schulungsabend der Schiedsrichtergruppe Ulm/Neu-Ulm gekommen.
Im vollen Saal im Restaurant des ESC Ulm spricht Ralf Lalka vom Schiedsrichter-Lehrstab zum Thema Verwarnungen - Gelbe Karten, Rote Karten, aber nicht nur.
Kommunikation mit Spielern
"Man versucht immer zu kommunizieren, finde ich", antwortet ein Schiedsrichter im Publikum und ergänzt ironisch: "Bevor man die Karte rauszieht - das ist viel Arbeit."
Es gibt ein paar Dinge beim Verwarnen zu beachten. Das demonstriert Hans-Peter Pecher zusammen mit einem anderen Schiedsrichter, der kleiner als Pecher ist. Scrollen Sie weiter, um das Video anzuschauen.
Wie ein großer Schiedsrichter einem Spieler die Karte zeigt
"Lass den Scheiß"
Auch hier ist wieder die Kommunikation entscheidend. Zu vermeiden sind laut dem Schiedsrichterlehrer Aussagen wie: "Lass bitte sowas bleiben, beim nächsten Mal fliegst du runter." Oder: "Lass den Scheiß!" Stattdessen sollten sich Schiedsrichter kurz halten: "So nicht." Oder: "Die Grenze ist erreicht." Und dann kommt die Karte.
Ralf Lalka hat auch einen Tipp, wie Schiedsrichter mit wütenden Spielern umgehen können. Diesen sollten Schiedsrichter am besten nicht direkt in die Augen schauen, sondern auf die Nasenwurzel. "Dann fühlt der sich auch nicht provoziert, wie wenn man ihn direkt wie so einen Stier anschaut." Dann können die Schiedsrichter auch den Blick halten.
Wie es sich anfühlt, mit wütenden Spielern auf dem Platz zu stehen, erzählt der Schiedsrichter Jens Steck im Interview.
Angst auf dem Fußballfeld?
Den Schulungsabend empfindet er nicht als Pflichtprogramm, sondern es macht ihm Spaß, den Abend mit seinen Kumpels zu verbringen.
Nach der Schulung ist vor dem Essen
Am Tisch sitzt Rüdiger Bergmann, seit 30 Jahren Schiedsrichterobmann der Schiedsrichtergruppe Ulm/Neu-Ulm. Rüdiger Bergmann erzählt: Die Mannschaften halten auf dem Fußballplatz zusammen. "Der Schiedsrichter hat keine Freunde, der ist allenfalls geduldet." Wenn es dann schlecht läuft, dann sei er der Erste, auf den sich der Zorn entlade.
Gerade deshalb ist es wichtig, dass Schiedsrichter die Geselligkeit pflegen, sagt Bergmann. Wie bei einem Schulungsabend.