Vichy in Sigmaringen
Die unfassbare HauptstadtVon Florian Peking und Michael Hescheler
Zeitzeugen und Experten erinnern sich in dieser multimedialen Reportage an die Zeit. Die Chronologie einer denkwürdigen Episode deutsch-französischer Geschichte.
Der Anfang
Der Anfang
Als die Alliierten Frankreich einnehmen und die Macht an den Widerständler de Gaulles übergeben, wird die Luft für die Vichy-Leute immer dünner. Staatspräsident Pétain, Ministerpräsident Laval und mit ihnen rund 2000 Gefolgsleute stranden in Sigmaringen.
Die Sigmaringer Vichy-Zeit wirkt wie ausgelöscht
Laut Becker hängt dies mit einer gezielten Aktenvernichtung örtlicher Behörden vor dem Einmarsch französischer Truppen im April 1945 zusammen. Becker stützt sich in seinen Beiträgen auf private Tagebücher, Nachlässe und Dokumente des fürstlichen Archivs, die auch Grundlage unserer Veröffentlichung sind.
Die Macht
Als die Nazis 1942 ganz Frankreich einnahmen, verlor Pétain seinen Spielraum. Doch Hitler fürchtete mit dem Vorrücken der Alliierten, dass sich die graue Eminenz auf die andere Seite schlagen könnte. Deshalb sperrte er Pétain und seine Leute in Sigmaringen ein. Der einstige Machthaber stellte in Sigmaringen jedoch seine Regierungstätigkeit ein.
9. September 1944Die fürstliche Familie muss das Schloss verlassen
Zwei Monate nach seiner Entlassung zieht der Fürst in sein Krauchenwieser Landhaus. „Pétain schläft in meinem Bett“, soll die ausquartierte Fürstin gesagt haben.
10. Oktober 1944Fürstin Margarete empört sich über die neuen Zustände
Für die am Südrand der Schwäbischen Alb gelegene Kleinstadt sprach ihre Abgelegenheit, die der SS eine Überwachung mit überschaubarem Aufwand ermöglichte. Ferner verfügte Sigmaringen über etliche repräsentative Gebäude, kaum Industrie, weshalb keine Luftangriffe der Alliierten zu erwarten waren, und die Donaustadt war weit genug von der Front entfernt.
Das schlafende Kabinett
Daran änderte auch nichts, dass Sigmaringen zu exterritorialem Gebiet erklärt wurde und die Achsenmächte Deutschland, Japan und Italien in der Stadt Botschaften unterhielten. Die in sich zerstrittene Regierung beschäftigte sich, wie es Historiker Becker ausdrückt, mit Dinieren, Diskutieren und Intrigieren.
Rückstände im Schloss
Diese führen auch in einen Seitengang, der eine Wand-Kritzelei zeigt, die während Sanierungsarbeiten bewusst erhalten wurde. Einer von Pétains Gefolgsleute brachte hier seine Verachtung de Gaulles gegenüber zum Ausdruck.
Eine Stadttour ins Vichy-Zeitalter
Im Prinzenbau waren Ministerien, Behörden, die Redaktion der Zeitung „La France“ und ein Radiosender untergebracht. Welche Gebäude heute sonst noch auf die Vichy-Regierung hinweisen?
Der Alltag
Der Alltag
In dieser Zeit kommen täglich mehr Exilfranzosen nach Sigmaringen und gehören bald schon selbstverständlich zum Stadtbild.
4. November 1944Die Zahl der Franzosen in Sigmaringen nimmt stetig zu
Und auch in den kommenden Wochen und Monaten nimmt der Zustrom an Flüchtlingen nicht ab. Bald schon hat sich der Bevölkerungszahl der Kernstadt verdoppelt – auf über 10.000 Einwohner.
Der Wohnraum ist knapp
So auch bei den Dittrichs: Bei ihnen kommt die Familie Lamarque unter. Die heute 83-jährige Elisabeth Dittrich ist damals acht Jahre alt. Die Lamarques hat sie als "dankbare Leute" in Erinnerung.
1. Dezember 1944In der Schlosskirche findet ein feierlicher Gottesdienst statt
Das geistliche Zentrum der französischen ist die Stadtpfarrkirche St. Johann. Regelmäßig feiern die Franzosen dort die Messe. Und auch den greisen Kopf des Vichy-Regimes trifft man dort.
Die Propaganda
Die Propaganda
Zentral sind dabei die Medien, die die Vichy-Regierung für die Propaganda installiert. So kommt es, dass in der Gegen-Hauptstadt Sigmaringen ein französischsprachiger Radiosender und eine Tageszeitung ihre Arbeit aufnehmen.
26. Oktober 1944Die erste Ausgabe der Zeitung "La France" erscheint
Die Redaktionsräume von "La France" befinden sich ebenfalls in der Karlstraße – im Prinzenbau, wo sich heute das Staatsarchiv Sigmaringen befindet.
9. November 1944Der Radiosender "Ici la France" beginnt zu senden
Wie Historiker Otto Becker schreibt, könnte sich die Sendeanlage von "Ici la France" auf dem Sigmaringer Sandbühl befunden haben – das jedenfalls lässt die nicht bestätigte Auskunft eines Zeitzeugen vermuten.
Das Ende
Das Ende
Immer mehr Flüchtlinge – darunter nicht nur Franzosen, sondern auch Italiener und Russen – kommen am Bahnhof an und harren im nahegelegenen Prinzengarten aus. Wie ein Zeitzeuge schreibt, ist die Allee im Park bald schon mit Kot bepflastert, weil die Menschen keinen Zugang zu sanitären Anlagen haben.
27. Februar 1945Bombenangriffe auf die Hohenzollerische Landesbahn
Am Nachmittag werfen acht Flugzeuge ihre Bomben über dem Bahnhof in Jungnau ab. Dort steht gerade der Fünfuhrzug – 29 Menschen kommen durch den Angriff ums Leben. Heute erinnert vor Ort ein Gedenkstein an den Tag.
Mit den Kollaborateuren wird brutal umgegangen
Auch Zeitzeugin Elisabeth Dittrich hat den Abschied von "ihrer" französischen Familie in trauriger Erinnerung.
21. April 1944Der Kopf der Vichy-Regierung flieht aus Sigmaringen
Den Exodus von Sigmaringen als Vichy-Hauptstadt kommentiert ein Tagebuchschreiber so: „Somit ist Sigmaringen seine fremden Gäste wieder los.“ Ein unfassbares Kapitel in der Stadtgeschichte wird nach rund sieben Monaten wieder zugeschlagen.
Impressum
Umsetzung: Florian Peking
Texte: Florian Peking und Michael Hescheler
Videos: Florian Peking
Fotos: Satz & More, Bundesarchiv, Kristina Schmidl, akg images, Sammlung Gauggel, Florian Peking, Staatsarchiv Sigmaringen, Elisabeth Dittrich, Theresa Gnann, Gabriele Loges, UPI/dpa, Sebastian Musolf
Karte: David Weinert, erinnerungsort-sigmaringen.de, Gabriele Loges
Besten Dank für die Unterstützung: dem Vichy-Kenner Dr. Otto H. Becker, der fürstlichen Familie für die großzügigen Einblicke, den Zeitzeugen, die vor und hinter der Kamera ihre Erinnerungen teilen.